Mit Würde altern

Vidisha erklärt uns, warum alt werden eine der größten Ängste der heutigen Gesellschaft geworden ist und zeigt uns wie wir die Realität des Altwerdens mit Würde akzeptieren, uns selbst mehr wertschätzen und ein glücklicheres Leben führen können - ein Thema, das uns über den Weg laufen wird, wenn wir in anderen Kulturen und anderen Gesellschaften leben.

Von den feinen Linien im Gesicht bis hin zu ergrauendem Haar, der Übergang ins Altsein bringt viele Veränderungen mit sich. Und in der heutigen ewig-jung-aussehenden Gesellschaft bedeutet Altwerden nur, dass man seine Haut mit verschiedenen Produkten “pflegt”, um jünger auszusehen. Aber verliert man im Alter wirklich seine Jugend oder ist es ein Eintauchen in eine neue Phase voller Möglichkeiten und Stärken? Ein Gedanke, den ihr im Kopf behalten solltet. Reflektiert im weiteren Verlauf mal diese Frage! 

Die niemals endende, unübliche und abnorme Angst vor dem Altwerden hat sogar einen Namen: “Gerascophobie” (das ist die Angst vor dem biologischen Altern des Körpers und damit einhergehender Altersschwäche). Der Begriff bezieht sich auf eine große Panik vor dem Degenerationsprozess des Körpers aufgrund von Alter. Gerascophobie wird oft gleichgesetzt mit Gerontophobie, die die Angst von alten Menschen beschreibt. Beide Begriffe haben ihren Ursprung im Griechischen, wobei sich der Wortbestandteil “Geronto” auf das Alter selbst bezieht und “Gerasco” das Altern als Prozess beschreibt. Diese beiden Ängste sind miteinander vernetzt, da sie im Grunde beide das Alter als Fokus haben. 

Klar, wir haben alle unsere eigenen Ängste, aber die Angst vor dem Älterwerden geht auf verschiedene tiefgreifende Faktoren zurück. Meist fangen wir in unseren 20ern an, das Leben ein wenig näher zu betrachten und dann realisieren wir oft, dass die Tage, die Wochen, die Jahre schnell vorbeigehen. Die Gesellschaft sieht uns nun aus einer anderen Perspektive. Beauty Blogger*innen fangen dann plötzlich an, Tipps zu feinen Linien und Falten zu geben, der Druck eine Familie zu gründen und die perfekten Partner*innen fürs Leben zu finden steigt und unsere Gedanken drehen sich um die Balance zwischen Erfolg und Zufriedenheit. In diesen Jahren versucht unser Selbst innezuhalten und das Leben zu reflektieren, aber wen interessiert das schon? 

Angst kann auch etwas Gutes sein, wenn sie uns vor Schäden bewahrt. Aber die Angst vor dem Älterwerden wird stattdessen dazu genutzt, den Profit von Unternehmen zu steigern (die Kosmetikindustrie ist hier ganz vorn dabei). Diese Angst wird hier monetarisiert, indem suggeriert wird, dass die Produkte das Altern aufhalten oder zumindest verschleiern könnten. 

Die Angst vor dem Älterwerden ist keinesfalls ein neues Phänomen, denn schon von Anbeginn der Zeit altern wir. Was mich beunruhigt ist, dass diese Angst sichtlich zunimmt, sobald wir auf die 30 zugehen. Altwerden ist durch die Kommerzialisierung des gesamten Lebens zu einem Stigma geworden. 

Das Einzige, das am Altern problematisch ist, ist unsere Wahrnehmung dessen. Mit dem Prozess des Älterwerdens wächst die Angst, eine Bürde für die Gesellschaft und die Lieben zu werden. Aber es ist doch paradox, die Stigmatisierung des Alterns schafft so viel Stress, dass wir dem Verfall noch schneller entgegen gehen. Und Altern wir nicht seit dem Tag unserer Existenz? Altern ist etwas, das zum Leben dazugehört. Weil die Gesellschaft uns die Verluste, die das Altern mit sich bringt, ständig vor Augen führt, sind wir blind für alles, was wir im Alter gewinnen. Denn das Alter kann auch sehr befreiend sein - frei von Begrenzungen und der Sorge, was andere über uns denken. Hier beginnt die Phase, in der wir uns selbst mehr wertschätzen können. 

Eigentlich ist weder das Alter noch das Altern stressig. An einem bestimmten Punkt können wir eben nicht mehr alles selbst tun, genau wie als Kinder. So sind wir in unseren Zwanzigern voller Energie und wollen die ganze Welt erobern. Aber mit dem Verstreichen der Zeit spielt sich diese Realität nur noch in unseren Erinnerungen ab. Und jede dieser Erinnerungen sollte Entspannung mit sich bringen und nicht Angst. Der Übergang, den wir nach den Zwanzigern durchleben, sollte durch das Motto “Alter ist nur eine Zahl” geprägt sein. Macht euch frei von kulturellen Normen und fangt dann an, euer Leben so zu leben, wie ihr es wollt. 

“Age is an issue of mind over matter, if you don’t mind it doesn’t matter”. Dieser Satz, den Mark Twain über das Alter gesagt hat, bedeutet sinngemäß, dass das Alter eine Frage der Einstellung ist. Je weniger man sich damit beschäftigt, desto unwichtiger ist es. Wenn man das Altern mit Gnade und Mitgefühl betrachtet, dann fällt es leicht, das Altern als Prozess zu genießen. Der Großteil des Problems löst sich, wenn man nur die Perspektive darauf verschiebt. 

Jane Fonda hat es ganz treffend formuliert: “Wir müssen unser Verständnis von Altern verändern. Das alte Paradigma besagt, dass wir geboren werden, wir haben unseren Lebenshöhepunkt in der Mitte des Lebens und dann geht es bergab der Altersschwäche entgegen. Wenn man das Altern aber als eine aufsteigende Treppe betrachtet, dann steigern wir mit jedem Schritt aufwärts das Wohlbefinden, den Mut, die Seele, die Weisheit, die Fähigkeit wahre Intimität zu spüren und das Leben mit Intention zu leben.”  

Die Angst vor dem Altern ist so groß, weil sie mit der Angst vor einem Abfall der Lebensqualität einhergeht, während der Gewinn an Wissen und Lebenserfahrung oft außer Acht gelassen werden.

Vergesst den konventionellen Zeitstrahl des Lebens. Jedes Leben entwickelt sich in seinem eigenen Tempo. Solange ihr nur ausdauernd seid und nicht stillsteht, kommt ihr eines Tages zum Ziel. Und immerhin sind wir bekannt dafür, wer wir sind und nicht dafür, wie wir unseren Lebensunterhalt verdienen. 

Wir sollten unseren Körper auf physischer und emotionaler Ebene als Tempel verstehen. Gutes Essen, ausreichend Wasser, Bewegung, Meditation und regelmäßige Besuche beim Arzt drücken die Wertschätzung für unseren eigenen Körper aus, ohne den wir nicht dort wären, wo wir sind. Wissenschaftliche Studien belegen, dass die Menschen, die am längsten leben, aus Okinawa in Japan stammen. Neben ihren physischen Bedürfnissen kümmern sich die Bewohner*innen von Okinawa besonders stark um ihr mentales Wohlbefinden. Daher treffen sie sich jeden Abend nach der Arbeit in kleinen Gruppen, um im Austausch die schlechten Gefühle des Tages hinter sich zu lassen. Sie singen und tanzen in Parks und verbringen die Zeit mit Menschen, mit denen sie sich gut verstehen. 

Während ich über das Altern schreibe, realisiere ich, dass ich bald 40 werde. Mit den Verpflichtungen und den Zielen vor Augen, die ich noch vor mir habe, realisiere ich mit einem Lächeln, dass Altwerden eine Realität ist, der niemand entkommen kann. Gleichzeitig führe ich mir vor Augen, wie wichtig Selbstliebe und die Wertschätzung meiner selbst ist und verpflichte mich vor allem anderen dazu, mich selbst glücklich zu machen. Denn es geht darum, mir selbst gerecht zu werden. Dafür sollten wir Verantwortung für unser Alter übernehmen und nicht versuchen, davor davonzulaufen. So können wir unser älteres Ich viel mehr wertschätzen und es als wertvollen Teil unseres Lebens akzeptieren. 

Das nächste Mal, wenn euch der Gedanke ans Älterwerden stresst, umarmt euch selbst und sagt euch “Ich bin bereit meinen Lebensweg in meinem eigenen Tempo zu gehen und ihn zu genießen”. Denkt daran, es geht im Grunde nur darum, etwas zu akzeptieren, was unveränderlich ist. Wenn ihr das geschafft habt, dann wird euch das Alter mit Weisheit und Erfahrungen belohnen. 

Autorin: Vidisha Singh

June 2021

Vidisha Singh ist eine zertifizierte Therapeutin und Coach für positive Psychologie. Sie hat eine Ausbildung als spirituelle Therapeutin und Beraterin für frühkindliche Erziehung. Vidisha glaubt daran, dass jeder Mensch eine besondere Kraft hat und in ihren Sitzungen formt sie diese zu starken und unabhängigen Individuen. Diese besonderen Kräfte kitzelt sie mit Feingefühl heraus und bringt sie so zutage.

Cover Foto Credit: Oriol Casas - Unsplash

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