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Dilli Log #2: Symbolträchtige Bauarbeiten
17 Oct 2021
Mit einer Durchschnittstemperatur von 39,5 Grad sind Mai und Juni in Delhi die heißesten Monate im Jahr. Die Hitze lähmt, macht schläfrig. Juni gilt als Monat für frische Mangos und Lychees - die Süße der Früchte entschädigt für die Tortur des Schwitzens. Bei acht bis neun Sonnenstunden bringt die Nacht kaum noch Kühle. Ob Wasserleitungen oder Wassertanks, die Sonne heizt alles auf. Wer den Wasserhahn aufdreht, hat rund um die Uhr warmes Wasser. Allerdings halten die schwindelerregenden Temperaturen niemanden von der Arbeit ab. Insbesondere im Herzen Delhis fließt in diesen Tagen viel Schweiß, und zwar auf der Großbaustelle des Central Vista Projekts.
Bei dem Sanierungsprojekt handelt es sich um drei Kilometer auf dem zeremoniellen Boulevard Rajpath. Die Strecke, die zwischen dem Amtssitz des indischen Staatspräsidenten und dem India Gate liegt. Zwischen 2020 und 2024 sollen hier ein neues Parlament, eine neue Residenz für den Premierminister und neue Ministerien entstehen. Außerdem sollen die zwei Blöcke des Zentralsekretariats in öffentliche Museen verwandelt werden. Die Zentralregierung argumentiert, dass die existierenden Gebäude aus allen Nähten platzen. Und zudem einer Modernisierung bedürfen, was angesichts der alten Gemäuer aber schwierig ist. Die Regierung unter Premier Narendra Modi ist jedenfalls bereit gute 250 Milliarden Euro in die Großbaustelle zu investieren.
Das Central Vista Projekt gilt als ein Lieblingsprojekt der Regierung Modi. Wie wichtig es ist, wurde deutlich, als die dramatische zweite Covid-Welle über Delhi hereinbrach. Als die Stadt wegen Sauerstoffmangels verzweifelte und im Lockdown erstarrte, gingen die Bauarbeiten am Rajpath weiter. Das Projekt wurde als „essenzieller Dienst“ kategorisiert. Der Oppositionspolitiker Rahul Gandhi twitterte: „Social Vista - nicht essenziell. Eine Zentralregierung mit einer Vision - essenziell.“ Ein anderer warf dem Premierminister vor, seine Eitelkeit zu pflegen, während andere Menschen um Atem ringen. Das Oberste Gericht von Delhi entschied dann Ende Mai, dass Central Vista ein „essenzielles Projekt von nationalem Interesse“ sei.
Mit dem Central Vista Bauprojekt ist es ähnlich wie mit dem Berliner Stadtschloss, dem Verkehrsprojekt Stuttgart 21 oder der Elbphilharmonie – die Debatten um ihren Bau sind genauso wenig zu stoppen wie ihre Bauarbeiten. Und meistens haben Befürworter*innen und Gegner*innen gute Argumente. Während die einen darauf bestehen, dass mit dem anwachsen der Bevölkerung Indiens auch eine Erweiterung der Parlamentssitze und der gesamten Verwaltung einhergeht, stören sich die anderen vor allem am geplanten Abriss des Nationalmuseums, des Indira Gandhi Zentrums und des Nationalarchivs. Insbesondere die Zerstörung des Nationalmuseums - mit seinen 200.000 antiken Ausstellungsstücken aus allen Epochen der indischen Geschichte und aus allen Regionen des Landes – löste Empörung aus. Dass dem Großprojekt eine gewisse Anzahl alter Bäume entlang des Rajpath-Boulevards weichen sollen, steht ebenfalls in der Kritik.
Der praktische Nutzen des Großprojekts für den indischen Regierungsapparat liegt auf der Hand. Und wenn man bedenkt, dass das indische Regierungsviertel von der britischen Kolonialmacht gebaut wurde, ist es gut nachvollziehbar, dass die erlebte Unterdrückung abgeschüttelt werden muss - und damit auch die Symbolik der Kolonialmacht. Dennoch fragt man sich angesichts der schwierigen Lage des Gesundheitssystems, der Armut von Kleinbauer*innen und Arbeitsmigrant*innen oder den hoffnungslos verschmutzten Gewässern Indiens, ob das Geld an anderen Stellen nicht besser investiert wäre. Aber vielleicht darf man den Symbolgehalt des Central Vista Projekts nicht unterschätzen.
Wenn ihr die Dilli Log Reihe als Podcast verfolgen wollt, dann schaut hier!
18.06.2021
Autorin: Antje Stiebitz
Photo Credit: Laurentiu Morariu - Unsplash
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